NO LIMITS – Disability & Performing Arts Festival Berlin
13.–24. November 2024
HAU Hebbel am Ufer / Theater Thikwa / Ballhaus Ost / RambaZamba Theater / Theater an der Parkaue
Vom rätselhaften Tanz-Bildergewitter aus Portugal bis zur überbordenden Klassiker-Überschreibung aus Peru – auch in seiner elften Ausgabe wagt NO LIMITS den Grenzen sprengenden Blick auf Theater und Tanz aus aller Welt. Mehrere Programmschienen laden ein zum Austausch über Körperbilder und Selbstermächtigung. Deutschlands größtes und wichtiges Festival für Disability & Performing Arts zeigt was passiert, wenn die Frage nach Barrierefreiheit den Ausgangspunkt eines kreativen Prozesses bildet und Künstler:innen mit Behinderungen nicht nur mitmachen, sondern in allen künstlerischen Funktionen den Hut auf haben.
20 Theater-, Tanz- und Performancegruppen aus 12 Ländern in mehr als 40 Vorstellungen bilden ein zwölftägiges diverses Theaterfest in Zusammenarbeit mit dem HAU Hebbel am Ufer, dem RambaZamba Theater, Theater Thikwa, Ballhaus Ost und erstmals dem Theater an der Parkaue. Ein Symposium, Partys und internationale Begegnungsformate für inklusiv arbeitende Künstler:innen runden das Programm ab.
NO LIMITS Runway – das ganze Festivalprogramm im Schnelldurchlauf
Geht es um Knochen? Das Innen und Außen der menschlichen Anatomie? Oder etwas ganz anderes? Die Eröffnungsproduktion Ôss der portugiesischen Choreografin Marlene Monteiro Freitas und dem Ensemble Dançando com a Diferença ist ein steter Bilderstrom. Überbordend, verstörend und rätselhaft entzieht er sich jeder klaren Deutung. Ganz anders nähert sich die spanische Tanzkompanie Danza Mobile den Körpern. Ausgehend von Platons Gastmahl suchen Arme, Beine, Schultern ihr passendes Gegenstück, damit sie ein Ganzes werden. Ein erotisch-queeres Fest des Begehrens in all seiner Vielfalt voller Sinnlichkeit und Humor.
Um das Betreten der Welt, die eine Bühne ist, geht es bei tanzbar_bremen. Was bin ich bereit zu zeigen und was kommt zum Vorschein, wenn ich mein schönes Kleid ablege? Ein Raum der Möglichkeiten des Ichs und des Zusammenseins.
Unusual Symptoms und die ungarische Choreografin Adrienn Hód laden ein, den menschlichen Körper und seine Bedeutung in Tanz und Gesellschaft neu zu entdecken. Lustvoll, erotisch, selbstironisch erforschen sie unterschiedliche Körper und spielen selbstbewusst mit und gegen Körpernormen.
Wie viele Stimmen braucht ein Mensch? Vor allem, wenn die eigene Stimme immer mehr versagt? Das Schauspielhaus Wien stellt Fragen über Körperbilder und Selbstrepräsentation in unendlich vielen Facetten. Diskursiv, manchmal lustig, berührend und immer leichtfüßig.
Mit feinem Humor behandeln das feministische Kollektiv hannsjana und Theater Thikwa ein schwieriges Thema: Wer möchte ein Baby bekommen und soll nicht? Und wer möchte keine Babys bekommen, aber soll? Große Fragen über Reproduktion, Elternschaft und Fürsorge, die hier ebenso unterhaltsam wie nachdenklich zu einem Manifest der Selbstermächtigung werden.
Sein schwerer Autounfall ist der Ausgangspunkt einer autobiografischen Performance des australischen Tänzers Marc Brew. Gemeinsam mit dem belgischen Star-Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui erzählt und tanzt er in dieser bildgewaltigen Multi-Media-Performance von seinem Kampf ums (Über)leben. Im besten Sinn überwältigend und vor allem: Keine Heldenstory.
Musikalisch wird es mit dem Hardcore-Barden Rainald Grebe und dem RambaZamba Theater. Sie setzen sich mit dem wohl schrägsten Dauerbrenner der deutschen Fernsehgeschichte auseinander: Dem Musikantenstadl. Guter Geschmack und klatschende Bierbänke sind an diesem Abend garantiert, der im Rahmen von NO LIMITS Premiere feiert.
In mehreren Programmschienen greift NO LIMITS aktuelle Diskurse auf: Die Reihe Aesthetics of Access zeigt Stücke, die Zugänglichkeit von Anfang an als Element des kreativen Prozesses verstehen. Die Stopgap Dance Company aus Großbritannien entwirft eine Utopie des gleichberechtigten Zusammenlebens, in der fulminante Choreografien mit Audiodeskription und kreativ eingesetzten Übertiteln zu einer Einheit verschmelzen. Choreograf Alessandro Schiattarella macht sich mit drei Performer:innen auf die Suche nach der eigenen Zerbrechlichkeit. Und findet darin nicht nur eine politische Botschaft, sondern auch den glamourösen Pop-Moment.
Die Reihe Disabled Leadership zeigt Stücke, in denen Künstler:innen mit Beeinträchtigung nicht nur auf der Bühne das Geschehen bestimmen, sondern auch dahinter und davor den Hut aufhaben. Wie Claire Cunningham. In ihrer neuesten Arbeit Songs of the Wayfarer durchquert die Choreografin und Sängerin Natur- und Bühnenlandschaften, geleitet von Gustav Mahlers Liederzyklus und einem Kompass der Crip-Kompetenz und Freude.
Die Schweizer:innen Daniel Cremer und Yanna Rüger fragen in ihrer Schule der Liebenden, wie man flirtet, sich achtsam berührt und trotzdem Grenzen respektiert. Kurz, wie das überhaupt geht mit der Liebe und Selbstliebe. Eine genresprengende Performance in einer magischen Rauminstallation, die den Lehr-Körper von Theater Hora und das Publikum einbettet in eine Schule zum Leben.
Einen wilden Spagat zwischen Neuem Zirkus und queer-feministischer Stand-Up-Comedy wagt die englische Performerin Laura Murphy. Gleichzeitig ist ihr Solo eine zutiefst persönliche Auseinandersetzung mit der Frage, was es bedeutet, nicht passend zu sein und trotzdem gesellschaftlichen Raum einzufordern. Ein kühner und kluger Ritt, bei dem das Vertikal-Seil zu einem ganz persönlichen Erzählinstrument wird.
Die (eigene) Geschichte von Zwillingen, die mit Zerebralparese aufwachsen, erzählt der Brite Jack Hunter. Mit Tempo, Videos und absurdem Humor beschreibt er in seiner One-Man-Show die Geschwister-Beziehung von der Fruchtblase bis in die Jetztzeit – vielfältige gesellschaftliche Behinderungen und zweifelhafte Heldenvorbilder inbegriffen.
In einer weiteren Solo-Performance reflektiert Oskar Spatz (tanzbar_bremen) tanzend sein bisheriges Leben. Es geht um Durchbrüche und Rückschläge, Künstlerisches und Menschliches, Reis mit Hack und vor allem: Selbstbestimmung.
Zum ersten Mal ist das Theater an der Parkaue Partner von NO LIMITS. Hier entwickelte die Theater-Thikwa-Künstlerin Lia Massetti das Stück Tiere treffen Tiere. Da stoßen Kamele auf Eichhörnchen und es kann auch passieren, dass ein Igel Pudding kocht. Nichts ist festgelegt, alles improvisiert. Ein tierischer Spaß für Menschen ab 3 Jahren. Etwas ältere Kinder ab 8 Jahren können sich in Mistkäfer oder Larven verwandeln. In Kompost-Horror von Manuel Gerst und Leonie Graf kann jede:r etwas zur Rettung der Erde beitragen, im Wettlauf gegen die Zeit.
Als Festival-Abschluss rockt das peruanische Teatro La Plaza mit einer außergewöhnlichen Hamlet-Version das Hebbel am Ufer. Wie sich die Performer:innen Geschichte und Figuren aneignen und sie mit ihrer Existenz als Menschen mit Down-Syndrom und ihren Träumen verknüpfen, ist schlicht umwerfend. Shakespeare oder Selbstermächtigung, das ist hier nicht die Frage. Ein grandioses Theaterfest.
Apropos Fest: Wie immer wird bei NO LIMITS auch kräftig gefeiert. HAUptsache Party ist das Motto der Opening Night im WAU. Ballhaus-Glamour ohne Barrieren versprüht die Karaoke-Show des CherrYO!kie Kollektiv bei der Abschlussparty im Ballhaus Ost.
Mit ihren eigens für das Festival entwickelten Performances verbinden Anna Berndtson und Yingmei Duan die fünf über die Stadt verteilten NO LIMITS Spielorte. Bühnenraum trifft öffentlichen Raum. Die Besucher:innen werden mit allen Sinnen einbezogen.
Ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Theorie, Diskurs und Vernetzung rundet NO LIMITS ab. Ein zweitägiges Symposium zum Thema Disabled Leadership unterfüttert die diesbezügliche Programmschiene. Zum großen Netzwerktreffen unter dem Titel Das große Fressen bittet die Geheime Dramaturgische Gesellschaft Kulturschaffende aus allen Bereichen zu Tisch. Come together heißt es schließlich bei einem internationalen Austauschprogramm für inklusiv arbeitende Künstler:innen.